Schauen ist nicht gleich Sehen
Frühjahr 2020. Die ganze Welt ist von der Corona-Pandemie betroffen. Auch die Tübinger Wissenschaftlerin Li Zhaoping, Leiterin der Abteilung für Sensorik und Sensomotorik am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik und Professorin an der Universität Tübingen, hat mit den Auswirkungen von Lock Down- und Social Distancing-Maßnahmen zu kämpfen. Entgegen aller Hindernisse und Schwierigkeiten gelingt es ihr jedoch, Positives aus der Corona-Krise zu ziehen. „Die Pandemie hatte auch ihre Vorteile“, sagt sie. „Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich mich ungestört einem bestimmten Thema widmen.“
Das Ergebnis dieser fokussierten Arbeit: eine gerade veröffentlichte wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „The Flip Tilt Illusion“. Darin beschreibt Zhaoping, wie wir im peripheren Blick unser Gehirn so täuschen können, dass uns ein senkrechter Balken fälschlicherweise waagrecht erscheint. In ihrem Paper stellt die Forscherin den senkrechten Balken durch ein Paar von übereinanderliegenden Punkten dar.
Um unser Gehirn täuschen zu können, müssen wir wissen, welche rechnerischen oder algorithmischen Abkürzungen unser Gehirn nimmt, um die Welt visuell wahrzunehmen. In diesem Versuchsaufbau lässt sich das Gehirn allerdings nur hinters Licht führen, wenn die beiden Punkte verschiedene Farben vorweisen, schwarz und weiß. Sind sie jedoch gleichfarbig, funktioniert die Illusion nicht – ebenso wenig, wenn die Punkte nicht im peripheren, sondern im zentralen Sichtfeld wahrgenommen werden. Pikant: künstliche neuronale Netze, denen gemeinhin „übermenschliche“ Fähigkeiten im Bereich der visuellen Objekterkennung attestiert werden, sind nach Aussage der Forscherin ähnlich anfällig für diese Täuschungen.
Algorithmische Abkürzungen im Gehirn
Im Gegensatz zu den meisten Illusionen "stolperte" die Wissenschaftlerin nicht zufällig über dieses Phänomen, sondern sagte es gewissermaßen voraus, und zwar auf Basis einer Idee, deren theoretisches Fundament sie wiederum durch ihre vor rund 20 Jahren begonnene Forschung legte. Damals wurde die von ihr formulierte V1-Salienzhypothese (V1SH) in der neurowissenschaftlichen Community heftig debattiert, stellte sie doch einen Bruch zu früheren Ansichten dar, wie das Gehirn seine Aufmerksamkeit von einem Ort zum anderen verlagert.
V1SH besagt, dass V1, auch als primärer visueller Kortex bezeichnet, die unbewusste oder reflexive Änderung unseres Blickfeldes steuert. Dies war einigermaßen überraschend, da V1 im hinteren Teil des Gehirns lokalisiert ist, während das Frontalhirn gemeinhin als der „klügste“ Gehirnabschnitt angesehen wird. Das Frontalhirn wäre demnach prädestiniert dafür, die schwierige Aufgabe der Aufmerksamkeitssteuerung zu übernehmen, welche wiederum beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen.
Flip-Tilt-Illusion
Mit zunehmender wissenschaftlicher Evidenz wurden jedoch immer mehr Neurowissenschaftlerinnen und –wissenschaftler von V1SH überzeugt und begannen, die Hypothese experimentell weiter zu untersuchen. Je nachdem, ob V1SH zutrifft oder nicht, müssten grundlegende Annahmen überdacht werden, welche Prozesse des visuellen Systems wo im Gehirn ablaufen – und auch, welche Folgeexperimente sich daran anschließen sollten. Zhaopings Flip-Tilt-Illusion ist das Ergebnis eines solchen Folgeexperiments.
Was ist Schauen, was Sehen?
Um diese Theorien und Hypothesen verstehen zu können, müssen zunächst grundlegende Begriffe des visuellen Systems definiert werden, etwa „Schauen“ und „Sehen“. Während beide Begriffe umgangssprachlich oft beliebig vertauscht werden, sind sie aus wissenschaftlicher Sicht klar voneinander abgegrenzt. „Das Sehvermögen besteht sowohl aus Schauen als auch aus Sehen. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Vorgänge, die niemals gleichzeitig auftreten können“, sagt Zhaoping. „Eine Blinde Person etwa kann zwar schauen, aber nicht sehen.“
Schauen ist stets mit Aufmerksamkeit verbunden. Es erfordert in der Regel eine Kopfbewegung und beschreibt die Richtung, in die der Blick eines Menschen gerichtet ist. Schauen bedeutet, diejenige Stelle im peripheren Gesichtsfeld auszuwählen, zu der die Augen bewegt werden sollen. Dadurch wird die Stelle im zentralen Gesichtsfeld erfasst – und wird „gesehen“. Sehen kommt also stets nach dem Schauen, und ohne Schauen ist umgekehrt kein Sehen möglich.
Zhaoping veranschaulicht diesen Zusammenhang an einem Beispiel: „Das zentrale Sehen ist wie durch ein Fernrohr zu blicken. Man kann versehentlich einen Vogel entdecken, der sich in den Bäumen versteckt. Aber ohne peripheres Sehen kann man nicht wissen, wohin man das Rohr als nächstes richten muss, um einen zweiten Vogel zu finden“, sagt die Forscherin. Menschen mit einem Glaukom – umgangssprachlich als grüner Star bezeichnet – verlieren oft ihr peripheres Sehvermögen, während eine Makuladegeneration häufig mit dem Verlust des zentralen Sehfeldes einhergeht.
Li Zhaoping leitet die Abteilung für Sensorische und Sensomotorische Systeme am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik seit Oktober 2018. Ihrem Team gehören momentan fünf Forscherinnen und Forscher an. In Kürze sollen zwei weitere dazustoßen. Die Rekrutierung neuer Mitarbeitender sei in Zeiten von Corona nicht so einfach, räumt die Wissenschaftlerin ein. Sie plant den Aufbau eines interdisziplinär arbeitenden Teams, das ein Problem stets aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten kann. Um das visuelle System zu untersuchen und Theorien zu überprüfen, setzt Zhaopings Abteilung auf mathematische und rechnergestützte Methoden oder führt psychologische und neurowissenschaftliche Experimente an Nagetieren, Fischen oder freiwilligen Probandinnen und Probanden durch.
Neben ihrer leitenden Position am Max-Planck-Institut ist sie als Professorin an der Universität Tübingen tätig. „Es ist schön, endlich mein Wissen und auch meine Begeisterung für die Wissenschaft an andere Forscherinnen und Forscher weitergeben zu können", sagt Zhaoping. Ihre Kurse sind dabei bewusst nur auf eine begrenzte Anzahl an Studierenden ausgelegt, was tiefere Diskussionen und intensive Debatten ermöglicht. „Meine Studenten sagen mir, sie bevorzugen diese Art von Unterricht.“
Von Shanghai, New York und London nach Tübingen
Bevor sie vor etwa eineinhalb Jahren nach Tübingen kam, lebte Zhaoping in Metropolen wie Shanghai, New York oder zuletzt London. Diese Umstellung war zunächst herausfordernd, sagt sie. „Während ich in London nur über die Straße gehen musste, um ein gutes chinesisches Restaurant zu finden, war es in Tübingen ungleich schwerer.“ Doch nach einer Weile lernte sie die Vorzüge zu schätzen, die eine kleinere Stadt mit sich bringt: „Tübingen ist eine sehr grüne Stadt. Man ist schnell in der Natur.“ Der eher ländliche Charakter lässt sie zudem, sagt sie, nostalgisch an ihre Kindheit zurückdenken. Von der verbrachte sie zwei Vorschuljahre in China auf dem Land.
Seit kurzem beschäftigt sich Zhaoping und ihr Team zusätzlich mit dem visuellen System von Fischen – was manchen überraschen dürfte. „Beim Thema Sehen und Aufmerksamkeit kommen wohl den wenigsten als erstes Fische in den Sinn. Tatsächlich aber ist die oftmals zufällig anmutende Bewegung von Fischen Ausdruck eines aufmerksamkeitsgesteuerten Verhaltens", erklärt Zhaoping. Und aufgrund dieser Tatsache ließen sich Erkenntnisse, die aus dem menschlichen Sehen gelernt wurden, durchaus auf das Sehverständnis von Fischen übertragen – und womöglich auch umgekehrt.
Ein weiteres Projekt, an dem die Forscherin seit geraumer Zeit arbeitet, hat dagegen nichts mit Wissenschaft zu tun. Stattdessen betrifft es die Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse – das diesem Beitrag zugrundeliegende Interview wurde auf Englisch durchgeführt. Li Zhaoping macht keinen Hehl daraus, dass sie mit ihrem derzeitigen Niveau nicht zufrieden ist. „Ich bin ein bisschen enttäuscht von mir selbst. Ich dachte, ich könnte in ein paar Monaten Deutsch lernen". Sie bleibt aber weiterhin optimistisch, denn in letzter Zeit habe sie erstmalig ein Gefühl für den Rhythmus der deutschen Sprache entwickelt. „Das nächste Interview“, sagt sie, „kann ich vielleicht schon auf Deutsch geben!“