Struktur und Funktion des natürlichen neuronalen Netzes
Prof. Dr. Dr. h.c. Valentin Braitenberg
Die Forschung dieser Abteilung basierte auf der Verbindung von Neuroanatomie und Neurophysiologie mit Gehirntheorie, mit dem Ziel, die Mechanismen von Hirnfunktionen aufzuklären. Hauptarbeitsgebiete waren das visuelle System von Fliegen, Kleinhirn und Bewegungsphysiologie, sowie Struktur und Funktion der Großhirnrinde. Hierbei ging es u.a um quantitativ-anatomische zur Konnektivität des Cortex, um Orientierungsspezifität im visuellen Cortex von Primaten und eine neurologische Theorie der Sprache.
Nachruf auf Valentin Braitenberg (1926-2011)
Am 9. September 2011 verstarb Valentin Braitenberg in Tübingen, im Alter von 85 Jahren. Geboren wurde er 1926 in Bozen, er studierte in Innsbruck zunächst Physik, später Medizin, und wurde in Rom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Braitenberg hat sich zudem auch immer für Kybernetik interessiert, und wurde am Physikalischen Institut der Universität Neapel Professor für Kybernetik.
Ende der 60iger Jahre sah Werner Reichardt am MPI für Biologie in Tübingen die Zeit als gekommen an, seine Abteilung aus diesem Institut auszugliedern, und ein eigenes MPI für biologische Kybernetik zu gründen, wobei er von allen Tübinger Direktoren unterstützt wurde. Er berief dazu Valentin Braitenberg, Karl Georg Götz und mich, die wir damit zu Gründungsdirektoren dieses Instituts wurden.
Während Werner Reichardt der politische Kopf unseres Instituts war und blieb, war Valentin Braitenberg sicher die farbigste Persönlichkeit im Kollegium. Und ich sage sicher nichts Falsches wenn ich behaupte: unter seinen Zeitgenossen gab es keinen Wirbeltierhirnforscher, der ihn nicht kannte. Der Grund für seine Bekanntheit lag natürlich in seiner Wissenschaft, aber auch darin, dass er leidenschaftlich Geige spielte, und weltweit entsprechende Kontakte pflegte.
Valentin hatte bestimmte Eigenheiten, in denen er sich von den meisten von uns unterschied. Wie wir alle hatte natürlich auch er unentwegt Gutachten zu schreiben. Seine Besonderheit: selbst wenn ein Gutachten negativ war, schickte er eine Kopie mit vollem Absender an den Begutachteten. Er hatte hierzu griffbereit auf dem Schreibtisch einen Stempel des Wortlauts:
As a matter of principle, when I have to write about somebody or about somebody’s work, I let him have a copy.
Damit machte er sich natürlich nicht nur Freunde.
Bei dem was ich jetzt sagen werde, verletze ich den Grundsatz: de mortuis nihil nisi bene. Aber ich tue es mit gutem Gewissen, denn ich weiß, Valentin hätte mit Sicherheit nicht gewollt, dass ich an dieser Stelle irgendetwas beschönige. Es geht um Folgendes: Die einzige Schlichtung, die an unserem Institut notwendig wurde, musste sein, weil er sich mit einem seiner unkündbaren Mitarbeiter derart zerstritten hatte, dass das Kollegium unentwegt Wogen glätten musste; und der Zeitaufwand hierfür wurde so groß, dass wir in der Verzweiflung einen auswärtigen Schlichter zu Hilfe riefen. Es war Friedrich Cramer vom MPI für experimentelle Medizin in Göttingen. Ihm gelang es mit sehr viel psychologischem Geschick, das Problem zu lösen, so dass wieder Ruhe am Institut einkehrte. Valentin hat sich übrigens nach Jahren mit seinem Kontrahenten wieder versöhnt.
Die andere Seite von Valentin: Er hatte eine Schar von Schülern, die für ihn durchs Feuer gingen.
Ein Ausdruck hiervon ist, dass sie zu seinen Ehren sowohl zu seinem 60. Geburtstag, dann wieder zu seiner Emeritierung, und schließlich zu seinem 80. Geburtstag je ein Symposion in Tübingen veranstalteten, zu dem sich seine wissenschaftliche Familie jeweils versammelte. Zuletzt noch einmal, aus traurigem Anlass, bei seiner Beerdigung.
Ein halbes Dutzend seiner Ehemaligen erreichte Spitzenpositionen in Lehre und Forschung.
Sein hintergründiger, z.T. pointierter Witz, auch sein Humor, ermöglichten ihm immer wieder, auch schwierige Situationen zu entschärfen. Wenigstens ein Beispiel: In einem unserer Gremien wurden wieder einmal Hausberufungen kritisiert. Valentin meldete sich folgendermaßen zu Wort: von den vier Direktoren an unserem Institut gab es drei Hausberufungen – er meinte, völlig korrekt: Werner Reichardt, Karl Götz und mich. Er machte dann eine Pause, und jeder wartete darauf, was denn jetzt wohl kommen würde. Z.B.: so schlecht wäre unser Institut doch damit nicht gefahren… oder so ähnlich; aber er fuhr fort: und eine Fehlberufung. Der Vorsitzende ging daraufhin zum nächsten Tagesordnungspunkt über.
Einige Bemerkungen wenigstens zu Valentins Forschung. Nach Cajal und Brodmann schien die neuroanatomische Forschung zu Beginn des 20igsten Jahrhunderts zunächst abgeschlossen, und galt, vor allem bei jüngeren Biologen, nicht mehr als zukunftsträchtig. Das lag wahrscheinlich daran, dass die Anatomie zwar wunderschöne histologische Bilder der Gehirnstruktur liefern konnte, dass sich aber kaum etwas über die Funktion dieser Strukturen ermitteln ließ. Dies änderte sich schlagartig mit dem Aufkommen der Elektrophysiologie, die plötzlich Eigenschaften einzelner Nervenzellen offenbarte, und damit die Frage aufwarf: wie sehen eigentlich diese Nervenzellen aus, von denen man die elektrischen Signale abgeleitet hatte, und wie sind sie mit anderen verbunden? Die Beantwortung dieser Frage wurde zum zentralen Thema von Braitenberg und seiner Abteilung.
Seine Beiträge betrafen sowohl das Nervensystem von Insekten als auch das der Wirbeltiere. So hat er sehr früh aus der Struktur des Kleinhirns auf dessen Funktion als einem Generator für Zeitdifferenzen geschlossen. Auch die zirkuläre Anordnung der Orientierungssäulen im visuellen Cortex hat er vorausgesagt, was später mit spannungsempfindlichen Farbstoffen direkt gezeigt werden konnte.
Valentin Braitenberg hat mehrere Bücher verfasst, selbst einen Roman. Von besonderer Bedeutung ist das in fünf Sprachen übersetzte Bändchen „Vehikel“. Darin zeigt er, dass selbst komplexes Verhalten eines „Vehikels“ , damit auch das eines Organismus, durch die Kombination verblüffend einfacher Mechanismen generiert werden kann. Sein Beitrag zum Problem der Willensfreiheit.
Werner Reichardt starb im Alter von 68 Jahren, seinerzeit am Abend der Tagung, die zu seinen Ehren aus Anlass seiner Emeritierung abgehalten wurde, und zwar während sein Freund Gunther Stent eine Laudatio auf ihn hielt. Valentin Braitenberg hat seine Emeritierung 17 Jahre lang überlebt. Noch ein halbes Jahr vor seinem Tod war er täglich im Institut. Jeder Besuch bei ihm, an seinem Schreibtisch, führte zum Austausch gemeinsamer Erinnerungen, zur Mitteilung von Neuigkeiten, über die er immer informiert sein wollte, und zu spannenden Diskussionen.
Wir vermissen ihn.
Quelle: Kirschfeld, K. (2012), Vortrag in der Biologisch-Medizinischen Sektion der Max-Planck-Gesellschaft am 16.2.2012