Pionierstudie zur systemdynamischen Betrachtung von Hirnzuständen
 

Neue Perspektiven der neuroethologischen Forschung
 

25. Februar 2022

In biologischen wie auch in künstlichen neuronalen Netzen ist die zustandsabhängige Informationsverarbeitung ein zentrales Element von Verschaltungen. Jennifer Li und Drew Robson leiten eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen und beschreiben anhand aktueller Daten über verschiedene Spezies hinweg neuronale Dynamiken, die das Timing und die Organisation solcher neuronalen Zustände steuern und die sich während der Evolution der Arten erhalten haben. In der jetzt in der Zeitschrift Current Opinion in Neurobiology veröffentlichten Studie diskutieren sie das Zusammenspiel zwischen neuromodulatorischer Dynamik und hierarchischer Informationsverschaltung. Sie schlagen einen neuen Weg in der Neuroethologie vor, um die Beziehung zwischen neuronalen Netzen und komplexen natürlichen Verhaltensweisen besser zu verstehen.
 

In der theoretischen Informatik sind zustandsabhängige Rechenprozesse von Alan Turing und in der Verhaltensbiologie von frühen Ethologen wie Nils Tinbergen und Konrad Lorenz beschrieben. Jüngste wissenschaftliche Arbeiten präzisieren deren Erkenntnisse mathematisch, anhand einer systematischen Betrachtung verschiedener Modellorganismen, darunter beim Fadenwurm C. elegans, bei der Stubenfliege Drosophila sowie bei Zebrafische und Nagetieren.

Dynamische Verkettungen

"Bei Zebrafischlarven zum Beispiel ist das Verhalten während der Nahrungssuche hierarchisch auf Ebenen des Erkundens und Beutemachens organisiert. Beide Zustände erstrecken sich auf mehrere Minuten. Beide sind hierarchisch weiter organisiert, etwa anhand von Jagdsequenzen, die jedoch nur wenige Sekunden andauern. Aus ethologischer Sicht ist dies eine klassische Verhaltenshierarchie. Jedoch konnten wir auf Grundlage einer breiten Datenbasis neurologischer Analysen nun vielmehr komplexe dynamische Systeme erkennen, die die Prozesshierarchie organisieren", erklärt Studienleiterin Jennifer Li.  

In ihrer Arbeit formulieren Jennifer Li und Drew Robson eine Übersicht entlang zentraler ethologischer Theorien und interpretieren sie im Zusammenhang mit dynamischen Systemen neu. Dabei stellen sie fest, dass unser derzeitiges Verständnis für neuromodulatorische Aktivität und der zugrunde liegenden komplexen Hierarchien entscheidende Einschränkungen aufweist. "Das Gehirn führt kontinuierliche Zustandsveränderungen bei der Informationsverarbeitung von Wahrnehmung und Verhalten durch. Der interne Zustand des Gehirns organisiert Ziele und Motivatoren des Tieres. Es besteht keine einfache Verkettung zwischen einem bestimmten Satz neuromodulatorischer Neuronen und einem bestimmten Verhaltenszustand. Interne Hirnzustände sind multidimensional und dynamisch", erklärt Forschungsleiter Drew Robson.

Multidimensionales Modell

Ergebnisse jahrzehntelanger Hirnforschung zeigen, dass ein komplexes neuromodulatorisches System am Werk ist, in dem verschiedene Neurotransmitter (z. B. Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Acetylcholin) in einem hochdimensionalen Zustandskomplex zusammenspielen. "Jeder Verhaltenszustand tritt in diesem Komplex irgendwo an einem Punkt auf und dieser verbindet entlang von Pfaden einen Zustand mit einem anderen. Wir benötigen noch einen umfassenderen Überblick über die neuromodulatorische Aktivität und die Vielfalt von Verhaltenszuständen, um das vielfältige Beziehungsgeflecht besser entwirren zu können", schließt Li ab.    

Jennifer Li und Drew Robson haben bereits damit begonnen, ein mehrdimensionales Modell verschiedener interner Hirnzustände am Beispiel des Zebrafisches zu erstellen, das die Vielzahl der natürlichen Verhaltensweisen dieses Tieres ordnen soll. Die beiden Neuroethologen sind auf diesem Gebiet Pioniere und schlagen ein neues Kapitel zum Verständnis der Funktionsweise unseres Gehirns und seiner Organisation auf.

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