Illusionen und Ideen

Im Labor mit der Sehforscherin Zhaoping Li

24. März 2025

In ihrem Labor untersucht Zhaoping Li, wie wir das, was wir sehen, interpretieren — und oft auch fehlinterpretieren. Das Gehirn kann durch optische „Fake News“ getäuscht werden. Kann die Neurowissenschaftlerin dadurch entschlüsseln, wie wir die Welt wahrnehmen? Eine Versuchsperson berichtet.

 „Wow – das ist unerwartet!” Zhaoping Li zeigt aufgeregt auf den Computerbildschirm vor ihr. Der altmodische Röhrenmonitor – „LCD ist einfach längst noch nicht so gut für solche Experimente“, erklärt sie mir später – zeigt ein schlichtes graues Balkendiagramm. Was daran so besonders sein soll, ist mir in diesem Moment noch schleierhaft, aber selbst im schummrigen Licht des Versuchsraums ist die Begeisterung auf ihrem Gesicht deutlich zu erkennen.

Wir haben gerade die letzten zwei Stunden zusammen im Keller des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik verbracht, wo Zhaoping ihr Labor für Sehforschung eingerichtet hat. Die meiste Zeit habe ich durch eine Spiegelkonstruktion angestrengt auf einen Bildschirm gestarrt. Darauf zu sehen: schwarze und weiße Punkte. Manchmal flimmern sie, manchmal nicht, doch immer sind sie zu einer Scheibe angeordnet, die von einem Ring umgeben ist. Meine Aufgabe: zu entscheiden, ob die Scheibe in der Mitte vor oder hinter dem Rest des Bildes zu liegen scheint.

Illusorische Tiefe

Für den Eindruck räumlicher Tiefe ist die Spiegelkonstruktion verantwortlich: Sie zeigt dem linken und dem rechten Auge leicht unterschiedliche Bilder. Das Gehirn interpretiert einen Punkt im linken Auge und einen im rechten Auge als ein und denselben Fleck. Doch je nachdem, ob der Punkt im linken Auge ein bisschen nach rechts oder links verschoben ist, nimmt das Gehirn den Fleck als näher oder als weiter entfernt wahr.

Die Aufgabe mag simpel klingen, aber Zhaoping macht es ihren Versuchskaninchen nicht leicht: Bei manchen Bildern kann ich nur raten, ob die Scheibe im Vorder- oder Hintergrund ist. Das liegt daran, dass manche Punktepaare – manchmal sogar viele – aus einem schwarzen und einem weißen Punkt statt aus zwei Punkten derselben Schattierung besteht. Solche zweifarbigen Punktepaare senden konträre Signale: Ein Paar aus zwei schwarzen Punkten, das dem Gehirn „fern“ meldet, signalisiert „nah“, wenn man einen der beiden Punkte umfärbt – und umgekehrt.

Für eine uneingeweihte Versuchsperson wie mich ist allerdings nur ersichtlich, dass die Bilder ziemlich verwirrend sind, und Zhaoping achtet sorgfältig darauf, nicht durchblicken zu lassen, worauf sie bei dem Experiment eigentlich aus ist: den Feedbackprozess zwischen verschiedenen Hirnregionen, der – so ihre Hypothese – entscheidend für das Sehen (im Unterschied zum bloßen Hinblicken) ist. Doch eins nach dem anderen. Anfangs überrascht mich, dass Zhaoping während der gesamten Dauer des Experiments nicht von meiner Seite weicht; sie kalibriert die Geräte und plaudert mit mir in den Versuchspausen. Man könnte meinen, als leitende Forscherin habe sie kaum Zeit, bei praktischen Experimenten aktiv anzupacken. „Ich liebe die Arbeit mit meinen Probanden!“, korrigiert sie mich. „Sie gibt mir wertvolle Zusatzinformationen.“ Tatsächlich notiert sie all meine Bemerkungen darüber, wie ich das Experiment erlebe, und stellt Hintergrundfragen: Mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung in der Hirnforschung lassen sie Zusammenhänge erkennen, die anderen entgehen könnten. Und manchmal inspirieren ausgerechnet Details, denen sie gerade nicht aktiv nachspürt, sie zu Ideen für neue Hypothesen.

Fake News für den visuellen Kortex

Während ich konzentriert auf die Punktbilder starre, verfolgt Zhaoping meine Augenbewegungen: Manchmal soll ich direkt auf die Scheibe schauen, andere Male leicht nach oben. Im peripheren Blickfeld funktioniert das Sehen anders als im zentralen Gesichtsfeld, erklärt sie mir später: Alle optischen Reize kommen im sogenannten primären visuellen Kortex an, der im hinteren Bereich des Gehirns liegt. Aber nur ein winziger Teil dieses Inputs wird an die höheren Hirnareale weitergeleitet, die aus ihm ein sinnvolles mentales Bild rekonstruieren müssen. Wenn wir etwas direkt ansehen, senden die höheren Sehzentren Feedback an den primären visuellen Kortex; sie fordern weitere Informationen an. Befindet sich das Objekt jedoch in unserem peripheren Sichtfeld, zieht das Gehirn einfach voreilige Schlüsse aus den spärlichen Informationen.

Aus diesem Grund lässt sich der Sehsinn leicht täuschen. So auch hier: In vielen von Zhaopings Bildern erscheinen einige Punkte im Vorder- und andere im Hintergrund. „Ich gebe dem visuellen Kortex Fake News“, bringt Zhaoping es auf den Punkt. „Wenn man direkt auf ein mehrdeutiges Bild schaut, sagen die höheren visuellen Zentren ‚Moment mal, was ist das?‘ und bitten den primären visuellen Kortex, noch einmal nachzusehen.“ In diesem Fall sieht man die Scheibe als das, was sie in Wahrheit ist: eine ziemlich unsinnige Ansammlung von Punkten. Anders, wenn sich die Scheibe im peripheren Sichtfeld befindet: Die höheren visuellen Areale verzichten dann auf den Fact Check; sie erstellen aus den spärlichen verfügbaren Daten ein mentales Bild. Das Ergebnis: eine Scheibe erscheint im Vorder- oder Hintergrund – eine durch die Fake News erzeugte Illusion.

Der Charm indirekter Beobachtung

Zhaoping ist schon lange von den höheren Sehzentren fasziniert. Besonders spannend ist für sie, deren Funktion auf nicht-invasive Art zu untersuchen: Die studierte Physikerin mag die Herausforderungen, die mit indirekter Beobachtung verbunden sind. „Ich werde gefragt, wie ich denn das Gehirn erforschen kann, ohne es aufzuschneiden“, erzählt sie. „Aber man denke nur an Elektronen: Ist je eines gesehen worden? Wir wissen nur indirekt über sie Bescheid; zum Beispiel sehen wir Funken, wenn wir im Dunkeln an einem synthetischen Pullover rubbeln.“

Eben weil ihre Methode indirekt sind, ist es für Zhaoping so wichtig, ihre Hypothese durch mehr und mehr Indizien zu erhärten. Für ihre aktuelle Versuchsreihe hat sie einen besonderen Kniff erdacht: Einige Bilder flackern. Dadurch wird es für das Gehirn schwieriger oder sogar unmöglich, den Fact Check durchzuführen: Wenn es das Bild gerade überprüfen will, hat dieses sich bereits verändert. Die Ergebnisse meiner Versuchsreihe zum zentralen Sehen illustrieren das: Wenn das Bild schnell flimmert, lasse ich mich oft von der optischen Täuschung hereinlegen. Das heißt: Offenbar ist der Feedbackaustausch zwischen den verschiedenen Seharealen in der Tat notwendig.

Doch was Zhaoping beim ersten Blick auf meine Ergebnisse überrascht hat, ist ein scheinbar nebensächliches Detail: Mein peripheres Sehen lässt weniger leicht irreführen als erwartet. „Du glaubst die Fake News nicht!“, freut sie sich. Denn sofort fallen ihr mögliche Erklärungen ein – und Wege, sie zu überprüfen. Für eine Forscherin wie Zhaoping, die von Neugier und Leidenschaft angetrieben wird, ist das Unerwartete keine lästige Hürde, sondern eine faszinierende Erfahrung: Jede Antwort der Natur inspiriert sie zu einer neuen Frage auf der niemals endenden Reise zu neuen Erkenntnissen.

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