Wie Zebrafische ihre Umgebung kartieren
Mechanismen der räumlichen Orientierung verblüffend ähnlich wie beim Menschen
Mit Hilfe von Zebrafischen wollen Forschende die Geheimnisse sogenannter Ortszellen entschlüsseln. Diese Nervenzellen spielen eine entscheidende Rolle bei der Bildung von mentalen Karten der räumlichen Umgebung, von sozialen Netzwerken und abstrakten Zusammenhängen. Bislang waren sie nur bei Säugetieren und Vögeln nachgewiesen, während die Frage, wie andere Arten die Außenwelt intern repräsentieren, weitgehend ungeklärt blieb. Ein Forschungsteam am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik hat nun den ersten überzeugenden Nachweis für Ortszellen im Gehirn der winzigen Zebrafischlarve gefunden.
Wenn wir eine fremde Stadt erkunden, verwenden wir verschiedene Anhaltspunkte, um eine mentale Karte unserer Umgebung zu erstellen: markante Gebäude; eine Vorstellung davon, wie weit wir in eine bestimmte Richtung gelaufen sind; vielleicht auch einen Fluss, den wir nicht überqueren können. Eine Schlüsselrolle bei der Erstellung solcher Karten spielen Ortszellen im so genannten Hippocampus, einer Struktur tief im Gehirn. Sie feuern dann, wenn wir uns an bestimmten Orten befinden, und können sich selbstorganisieren: zu unterschiedlichen mentalen Karten.
Dies gilt für Säugetiere, einschließlich des Menschen, und sogar für Vögel. Die Existenz von Ortszellen bei anderen Arten ist jedoch umstritten. Eine Gruppe von Forschenden am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen unter der Leitung von Jennifer Li und Drew Robson hat nun den ersten schlüssigen Beweis für Ortszellen im Zebrafisch gefunden.
Aufzeichnung der gesamten Hirnaktivität während natürlichen Verhaltens
Die Forschenden zeichneten die Hirnaktivität junger Zebrafische auf, während diese ihre Umgebung erkundeten. Diese Fische sind im Alter von wenigen Tagen völlig durchsichtig, so dass man direkt in ihr winziges Gehirn mit nur 100.000 Nervenzellen hineinsehen kann. Da neuronale Aktivität mit Schwankungen der Konzentration von Kalziumionen einhergeht, lassen sich mit fluoreszierenden Kalziumindikatoren sogar einzelne aktive Nervenzellen zum Leuchten bringen. Entscheidend für die Studie war eine frühere Erfindung von Li und Robson: Tracking-Mikroskope, die sich mit den freischwimmenden Fischen mitbewegen.
Mit diesem Versuchsaufbau analysierte das Team, welche räumlichen Informationen in den einzelnen Neuronen des Fischgehirns kodiert sind. Die Forschenden identifizierten eine Population von etwa 1000 Ortszellen in jedem Fisch, von denen die meisten nur dann feuern, wenn sich das Tier an einem bestimmten Ort befindet; nur einige wenige reagieren auf mehr als eine Region. „Die Gesamtheit der Ortszellenpopulation kodiert räumliche Informationen“, erklärt Jennifer Li. „Aus den Aktivitätsmustern der Ortszellen konnten wir den Aufenthaltsort jedes Fisches zu verschiedenen Zeitpunkten mit einem Fehler von nur wenigen Millimetern bestimmen.“
Interessanterweise befinden sich die meisten Ortszellen im Telencephalon, einer Region im Vorderhirn der Zebrafische, deren genaue Funktion seit Jahrzehnten umstritten ist. „Die hohe Dichte von Ortszellen im Telencephalon könnte die seit langem diskutierte Vermutung bestätigen, dass diese Hirnregion ein funktionelles Analogon zum Hippocampus der Säugetiere ist – in Miniatur“, kommentiert Drew Robson.
Integration verschiedenartiger Inputs und Flexibilität
Für den Nachweis, dass die von ihnen identifizierten Ortszellen tatsächlich dieselbe Funktion wie bei Säugetieren haben, benötigten Li und Robson jedoch weitere Belege. Zum einen war zu untersuchen, ob die sie auf wahrgenommene Eigenbewegung oder auf externe Reize reagieren. Um Beispiele aus der menschlichen Erfahrungswelt heranzuziehen: Die Information „Ich gehe seit etwa einer Minute zügig geradeaus“ beruht auf Eigenbewegung, wohingegen „Ich kann den Eiffelturm sehen“ auf einem externen Reiz basiert. In einer Reihe von Experimenten manipulierten die Forschenden beide Informationsquellen: Sie nahmen die Tiere kurzzeitig aus ihrer Umgebung heraus, entfernten Orientierungspunkte oder rotierten die Behälter der Fische. Das Resultat: Die Fische nutzen sowohl externe Informationen als auch interne Bewegungswahrnehmung nutzen, um ihre mentale Karte zu erstellen – genau wie wir.
Zum anderen werden mentalen Karten der Fische offenbar immer detaillierter, je vertrauter sie mit ihrer Umgebung werden. Darüber hinaus passen sie sich flexibel auf Veränderungen an: Mit Hilfe derselben neuronalen Schaltkreise können die Tiere sich eine zweite Umgebung einprägen. Werden sie in die erste Umgebung zurückgesetzt, müssen sie diese nicht von Grund auf neu kartieren, sondern können die ursprüngliche Karte teilweise wiederherstellen. Das Speichersystem ist also flexibel – ein weiteres Schlüsselmerkmal von Säugetier-Ortszellen.
Ein zukunftsträchtiger Modellorganismus
Mit dem Zebrafisch als neuem Modellorganismus wollen die Autoren der Studie weitere Geheimnisse der Ortszellen entschlüsseln. Denn diese Zellen bilden nicht nur räumliche Zusammenhänge, sondern auch soziale Netzwerke und abstrakte Beziehungen ab und sind entscheidend für Gedächtnis und Planung. Trotz intensiver Forschung in den 50 Jahren seit ihrer Entdeckung sind die neuronalen Netzwerke der Ortszellen noch längst nicht vollständig verstanden.
Die größte Herausforderung dabei liegt in der Größe und Komplexität der Ortszellnetzwerke von Säugetieren. Das Gehirn der Zebrafischlarve hingegen ist eines der kleinsten biologischen Systeme, das Ortszellen zulässt. Robson resümiert: "Mit diesem neuen Minimalmodell könnten künftige Studien alle Inputs jeder Ortszelle verfolgen und detaillierte Modelle dafür erstellen, wie Ortszellen all ihre einzigartigen Eigenschaften entwickeln.“