Zur Geschichte des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik
Ein virtueller Traum sollte wahr werden
Zeitzeuge und wissenschaftlicher Direktor der Gründergeneration des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik, Prof. Dr. Kuno Kirschfeld, erinnert sich an die Anfänge der kybernetischen Forschung in Deutschland.
Die Geschichte beginnt in den 1940er Jahren. Während des Zweiten Weltkriegs gab es in der Nähe von Berlin zwei Funkstellen, die für die Streitkräfte arbeiteten und 200 Meter voneinander entfernt lagen. Sie mussten den Luftraum im Auftrag der Luftwaffe überwachen. Im Dezember 1943 leistete der 19-jährige Werner Reichardt seinen Dienst in der einen Station, in der anderen war der 21-jährige Bernhard Hassenstein stationiert. Die beiden lernten sich zufällig kennen und erzählten sich gegenseitig, was sie faszinierte: Reichardt begeisterte sich für Physik und Mathematik, Hassenstein ebenso für Biologie. Sie diskutierten intensiv über wissenschaftliche Fragestellungen.
Schließlich beschlossen und versprachen sie sich gegenseitig, dass sie, wenn sie diese schreckliche Situation überleben würden, ein Institut gründeten, das es zumindest in Deutschland noch nie gegeben hatte: ein Institut für Biologie kombiniert mit Physik. Das war ihr Traum und der Ursprung dieses Instituts.
Ende 1944 verloren sie den Draht zueinander. Während Reichardt am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin bei Ernst Ruska promovierte, arbeitete Hassenstein am Max-Planck-Institut für Meeresbiologie in Wilhelmshaven bei Erich von Holst an seiner Dissertation, in der er zu verstehen versuchte, wie Insekten Bewegung wahrnehmen.
Gründung einer Forschungsgruppe Kybernetik
1950 trafen sich die beiden wieder und tauschten sich über ihre zwischenzeitlichen Arbeiten aus. Schließlich überzeugte Hassenstein Reichardt, dass es sich lohnen würde, gemeinsam an dem Problem der Bewegungswahrnehmung zu arbeiten. In der Folge kam es zu einem intensiven schriftlichen Austausch zwischen Wilhelmshaven und Berlin, der auch gelegentliche Besuche einschloss.
Nach Abschluss ihrer Promotionen mussten sie sich nach neuen Orten umsehen, um ihre Arbeit fortzusetzen. Hassenstein erhielt einen Ruf an die Universität Tübingen auf den ersten Lehrstuhl für Tierphysiologie in Deutschland unter der Leitung von Franz Peter Möhres.
Der in Berlin geborene Max Delbrück verließ Deutschland 1937, weil der politische Einfluss auf die Wissenschaft für ihn unerträglich geworden war. Ursprünglich Physiker, wechselte er auf Anraten von Nils Bohr zur Biologie. Er sagte: „Die Biologie ist zu wichtig, um sie allein den Biologen zu überlassen“.
Die zweite Schlüsselfigur war Karl Friedrich Bonhoeffer, Delbrücks Schwager und Direktor des MPI für biophysikalische Chemie in Göttingen. Bonhoeffer, ein Chemiker, war ebenfalls von den aktuellen Entwicklungen in den Neurowissenschaften fasziniert. Um es kurz zu machen, die Interaktionen und Initiativen dieser beiden führten zu bedeutenden Entwicklungen. Reichardt konnte nach Göttingen kommen, um seine Forschung in Bonhoeffers Abteilung fortzusetzen. Nachdem Bonhoeffer 1957 gestorben war, schlossen sich Hassenstein und Reichardt dem MPI für Biologie in Tübingen an und gründeten 1958 die Forschungsgruppe Kybernetik.
Die Gruppe wurde von Werner Reichardt, Bernhard Hassenstein und Hans Wenking geleitet. Wenking, ein Ingenieur, entwickelte elektronische Geräte, die damals noch nicht auf dem Markt waren. Diese kleine Gruppe bestand aus zwei Postdocs, Karl Götz und Dezsö Varju, und drei Doktoranden: Christoph von Campenhausen, Peter Kunze und Kuno Kirschfeld - alles in allem sieben Wissenschaftler. Die Postdocs und Doktoranden erreichten alle Spitzenpositionen in der Forschung. Das war damals zugegebenermaßen einfacher als heute, denn die wissenschaftliche Landschaft hat sich nach dem Krieg stark entwickelt. Ein Kommilitone von mir am Lehrstuhl für Romanistik in Freiburg schrieb in seiner Autobiographie: „Einem Lehrstuhl an einer Universität konnte man damals nur durch Selbstmord entkommen.“ Unsere Arbeit wurde von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet, und beim ersten Besuch des Beirats in Tübingen war sogar der erste Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Otto Hahn, dabei. Auch Konrad Lorenz besuchte unsere Gruppe mehrmals.
Einrichtung des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik
Reichardt verfügte von Anfang an über gute Kontakte in die USA. Am MIT in Boston hatte der Biophysiker und Neurobiologe Francis O. Schmitt eine Denkfabrik gegründet, das Neuroscience Research Program, und Werner wurde zum Mitglied gewählt. So war es nicht verwunderlich, dass Reichardt bereits 1960 eine volle Professur am Caltech in Pasadena angeboten wurde. Auch das MIT und die Bell Laboratories zeigten Interesse an ihm. Daraufhin baten die Direktoren des MPI für Biologie, darunter Alfred Kühn und Georg Melchers, die Max-Planck-Gesellschaft, Reichardt als wissenschaftliches Mitglied und Direktor ihres Instituts zu berufen. Ab 1960 wurde die Reichardt-Abteilung am MPI für Biologie eingerichtet.
Zur gleichen Zeit erhielt Hassenstein einen Ruf auf den Lehrstuhl für Zoologie an der Universität Freiburg. Nach intensiven Gesprächen mit Reichardt entschied er sich, den Ruf anzunehmen und Tübingen zu verlassen. In den nächsten Jahren wuchs die Abteilung von Reichardt, bekam neue Mitarbeiter und ein neues Gebäude. Wir arbeiteten auf verschiedenen Gebieten, wie dem Pupillensteuerungskreislauf, der menschlichen Netzhaut, dem Bewegungssehen bei Bienen und Fliegen und der Mechanorezeption bei Insekten. Wir untersuchten sogar das komplexe Auge des Hufeisenkrebses Limulus und die Reaktion des Schleimpilzes Phycomyces auf Licht.
Nach einigen Jahren kam die Leitung des MPI für Biologie zu dem Schluss, dass die Abteilung Reichardt so groß geworden war und sich thematisch von den anderen Abteilungen abgrenzte, dass ein eigenes Institut sinnvoll wäre. In der Zwischenzeit war Dezsö Varju auf einen Lehrstuhl für Biokybernetik an der Universität Tübingen berufen worden, mit dem wir eine enge Zusammenarbeit pflegten, vor allem was die Doktoranden anging. Als er ein Sabbatical einlegte, vertraten wir ihn an der Universität.
Werner diskutierte oft mit Karl Götz und mir über unsere Zukunft und äußerte seine Absicht, uns als Co-Direktoren für das neue Institut einzusetzen. Wir beschlossen, uns auf ein Thema zu konzentrieren: die Untersuchung der Verarbeitung visueller Informationen bei Insekten auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der Verhaltensanalyse, des Signalflusses im Gehirn und der Optik des Auges, insbesondere seiner Auflösung. Wir untersuchten auch, wie Licht in elektrische neuronale Signale umgewandelt wird, nachdem es von den Photorezeptoren absorbiert wurde. Während Werner, Karl und ich an diesen Problemen arbeiten konnten, fehlte uns die Kompetenz, die Gehirnstrukturen zu verstehen, die an der Informationsverarbeitung und der Erzeugung von Verhalten beteiligt sind. Werner kannte Valentino Braitenberg, einen Anatomen vom Kybernetischen Institut in Neapel, und schlug ihn als vierten Direktor vor. Mit diesen vier Direktoren wurde das Institut im Jahr 1968 gegründet.
Von der ersten zur zweiten Generation des Instituts
Werner Reichardt ging 1992 in den Ruhestand. Zu seiner Abschiedsfeier im September 1992 lud er Mitarbeitende und Freunde in ein italienisches Restaurant in der Altstadt ein. Ein Freund von ihm, Gunter Stent vom Caltech, sollte eine Laudatio halten. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Valentino Braitenberg trat an meine Frau heran und sagte, dass es Werner nicht gut ginge und fragte, ob sie sich um ihn kümmern könne, da sie Anästhesistin sei. Werner wollte nach Hause gebracht werden. Einer von Werners Mitarbeitern, Christian Wehrhan, holte sein Auto, und beide brachten Werner nach Hause. Später erfuhren wir, dass Werner Reichardt einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, an dem er einige Tage später starb.
Im Jahr 1994 ging Valentin Braitenberg in den Ruhestand. Da Karl Goetz und ich viele Jahre später in Pension gingen, waren wir berechtigt, die Ernennung von zwei neuen Direktoren vorzuschlagen. Dabei mussten wir berücksichtigen, dass damit die Forschungsrichtung des Instituts für die nächsten Jahrzehnte festgelegt wurde. In der Tat hatte sich der Schwerpunkt der Forschung bereits von den Insekten zu den Wirbeltieren und dem Menschen verlagert. Daher suchten wir nach Wissenschaftlern auf diesem Gebiet.
Wir stellten fest, dass ein bestimmtes Forschungsgebiet, das in Deutschland mit Weber und Fechner seinen Ursprung hatte, in Deutschland nicht mehr vertreten war: die Psychophysik, die heute ein Teil der Kognitionswissenschaften ist. Es war nicht schwer, einen hervorragenden Psychophysiker zu finden: Heinrich Bülthoff. Er hat hier in Tübingen promoviert und ist fünf Jahre bei uns geblieben. Dann ging er in die USA und wurde 1988 Professor für Kognitionswissenschaften an der Brown University in Providence. Wir waren froh, dass er 1992 den Ruf als Direktor hierher angenommen hatte.
Natürlich haben wir auch nach einem Neurophysiologen gesucht. Ich kannte Nikos Logothetis aus der Literatur. Wir hatten das Glück, dass erstens die Max-Planck-Gesellschaft bereit war, die notwendigen Kosten für seine Berufung zu reservieren, und zweitens, dass er bereit war, nach Tübingen zu kommen. So wurde Nikos Logothetis 1997 hier zum Direktor ernannt. Im Jahr 2021 verließ Nikos Logothetis mit einigen seiner Mitarbeiter unser Institut und ging an ein Institut in Shanghai, China. Logothetis führte hier die Magnetresonanztomographie ein. Bekanntlich ist unter der Leitung von Klaus Scheffler noch eine große Abteilung für Magnetresonanztechnik aktiv. Schließlich sollte auch die theoretische Seite durch das Institut vertreten sein. Mit Bernhard Schölkopf wurde 2002 auch die zweite Generation der Institutsdirektoren komplettiert.